Mit dem Fahrrad auf dem Jakobsweg
"Die Menschen lieben sich immer weniger und schämen sich immer mehr sich zu lieben. Ich glaube,
dies ist ein Gefühl, welches wir wieder erlernen müssen weil es vielleicht das einzige ist,das uns aufrecht hält."
Cafebetreiberin im Burgund
5. Juni 2022
Der Flug nach Barcelona läuft gut und ohne erwähnenswerte Schwierigkeiten. Ich beziehe ein Hotel in der Nähe von Barcelonita, dem bekanntesten Strand von Barcelona.
Es erreichen mich viele Glückwünsche über WhatsApp, EMail und SMS. Das freut mich sehr denn es zeigt, dass doch viele meinem Blog gefolgt sind. Es ist schon bemerkenswert welche Faszination der Jakobsweg auf viele Menschen ausübt
Ich werde in Barcelona ein paar wenige Sehenswürdigkeiten besichtigen aber meine Zeit hauptsächlich in Ruhe am Strand verbringen und die Seele umd den geplagten Hintern baumeln lassen. Es werden auch in Barcelona interessante und spannende Dinge passieren, aber dieser Blog soll meine Jakobswegreise beschreiben und endet deswegen an dieser Stelle. Vielleicht regt er andere an eine solche Reise zu wagen und denen wünsche ich jetzt schon "Buen Camino". Jedoch wird der Blog für mich eine bleibende Erinnerung an diese Reise sein. Eine Reise voller Abenteuer, Begegnungen, Landschaftseindrücken, Kulinarik und jeder Menge Bewegung.
4. Juni 2022
Heute werden die Lorbeeren geerntet. Es gibt in Santiago ein Pilgerbüro, das bei Nachweis der erbrachten Pilgerleistung zwei Urkunden ausgibt. Die Compostela und die Distanzia. Die Compostela ist auf lateinisch und bescheinigt den Besuch der Pilgerstätte. Die Distanzia beschreibt die geleisteten Kilometer sowie Startpunkt und weitere Details der Pilgerreise. Nach einem ausgeklügelten Verfahren erhalte ich wie auf der Böblinger Führerscheinstelle eine Nummer, die wie unschwer erkennbar später aufgerufen wird und signalisiert, dass man zur Urkundenübergabe vortreten darf Die hohe Nummer lässt mich erahnen, dass ich die beiden Urkunden erst in ein oder zwei Stunden bekommen werde. Aber macht ja nichts. Ich kann ja in der Zwischenzeit mein Fahrrad in der nahe liegenden Poststelle aufgeben, damit die Post es nach Deutschland transportieren kann. An der Poststeĺle klebt ein Zettel "Bin in 5 Minuten zurück". Ich bin eigentlich ein Optimist, aber solche Aussagen, zumal in Spanien, lösen bei mir ungute Gefühle aus. Etwa 30 Minuten später beschließe ich etwas essen zu gehen, aber finde in keinem der Restaurants oder Bars einen Platz. Ich fahre zu einer anderen Postfiliale und dort wird mir eröffnet, dass momentan nach Deutschland keine Fahrräder transportiert werden. Beim Verlassen der Poststelle fällt mir glücklicherweise ein, dass ich einen Bruder habe, der in der Schweiz wohnt und dem ich das Fahrrad schicken könnte, aber wie war nochmal die Adresse? Ich hetze zum Pilgerbüro und dort wird die aktuelle Nummer in Bearbeitung angezeigt. Es geht schneller voran als erwartet und ich beschließe erstmal meine Urkunden einzukassieren. Meine Nummer wird aufgerufen und ein freundlicher Mann erkundigt sich nach meinem Befinden. Ich überlege mir ob das eine Standardfrage ist, komme aber zu keinem Ergebnis. Er kontrolliert mein Stempelheft und überreicht mir die zwei Urkunden. Stolz wie Oskar verlasse ich so gegen 14 30 das Pilgerbüro und gehe die paar Schritte zur "in 5 Minuten zurück" Poststelle. Dort klebt jetzt ein Zettel "Um 15 Uhr offen". Ohne meine Enttäuschung zu zeigen, fahre ich zu der anderen Poststeĺle und kontaktiere Bernd, um die Versandadresse zu erfahren. Nachdem ich auf der Post mein Fahrrad fachgerecht mit abmontiertem Vorderrad, Lenker und Sattel in einen Karton verpackt habe, und ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen habe, bestelle ich zum letzten Mal ein Pilgermenu in einem der Restaurants nahe der Kathedrale.
Zum endgültigen Abschluss meiner Pilgerreise besuche ich die Pfingstsamstagabendmesse in der Kathedrale und fühle mich nackt, als ich ohne Fahrrad mit dem Taxi in mein außerhalb von Santiago gelegenes Hotel fahre.
3. Juni 2022
Der heutige Tag beginnt ähnlich erfreulich wie der gestrige. Blauer Himmel. Sonne satt und nicht zu heiße Temperaturen. Ich bin festlich gekleidet. Rot-Blau oder Blau-Rot. Das liegt ganz im Auge des Betrachters.
20 Kilometer vor Santiago lösche ich nochmal meinen Durst. Ich habe drei Orangensaft on Ice bestellt aber der Kellner bringt vier. Es beginnt zu regnen und es ist sofort zu erkennen, dass es sich hier um ein größeres Regengebiet handelt, denn der Himmel ist bis zum Horizont dunkelgrau. In Santiago liegt bekanntlich der Apostel Jacobus begraben und Jacobus oder wer auch immer in dieser Stadt für das Wetter verantwortlich ist, öffnet jetzt die Schleusen komplett. Vermutlich hat er gesehen, dass ich eine Badehose anhabe und möchte, dass der Tiger als begossener Pudel die Stadt erobert. Klatschnass aber glücklich erreiche ich die Kathedrale von Santiago de Compostela. Ich habe es endgültig geschafft und nach 1997 gefahrenen Kilometern das Ende aller Jakobswege erreicht.
2. Juni 2022
Die Etappe am heutigen Tag führt mich von Triacastella nach Palas de rei. Es ist mit 90 prozentiger Wahrscheinlichkeit Regen angesagt aber es scheint die Sonne. Die Tour wird zu einer Genussfahrt. Selbst mein Hintern spielt mit, denn ich habe so gut wie keine Beschwerden. Ich genieße die wunderschöne Landschaft in vollen Zügen.
Unterwegs frage ich mich ob sich die ganzen Strapazen gelohnt haben und mir fällt ein wie eine ältere französische Dame, die ihr Gästezimmer an mich vermietet hat fragte ob ich nur mutig oder auch ein bisschen verrückt sei von Deutschland mit dem Fahrrad nach Spanien zu fahren. Ich fragte damals Silvia danach und sie schrieb mir "Sag der alten Dame einen schönen Gruß von mir und sie hätte recht. Mein Mann ist ein bisschen von beidem". Vielleicht bin ich tatsächlich ein bisschen verrückt, aber Abenteuer und Erlebnisse wie diese sind für mich das Salz in der Suppe. Die Abwechslung vom Alltag. Man muß glaube ich ein wenig als Globetrotter geboren sein, aber wenn man den Zugang zu solchen Reisen gefunden hat, ist es wie eine Droge, die süchtig macht.
Vor und während meiner Reise bin ich öfters gefragt worden ob ich mich diese Fahrt alleine trauen würde. Sie sei gefährlich und es könne soviel passieren. Ich bin noch nicht wieder zuhause und es kann tatsächlich noch einiges schief laufen, aber die Tour war bisher nicht gefährlich. Der gefährlichste Moment war wahrscheinlich als ich in dieser unschönen Herberge in Leon mit dem Aufzug gefahren bin und beinahe von meinem eigenen Fahrrad erwürgt wurde.
Ich wollte das Fahrrad mit auf mein Zimmer nehmen und mir den Weg durchs enge Treppenhaus ersparen. Der Aufzug war so klein, dass ich das Vorderrad hochstellte und sich die schliessende Aufzugstür mit dem Vorderrad verkeilte, so dass es mir den Lenker direkt an die Gurgel drückte. Die Aufzugstür machte keinen Mucks mehr und meine Arme waren zu kurz, um an das Tastenfeld zu kommen. Ich hatte einen kurzen Moment ein Panikgefühl und dachte an die morgige Schlagzeile der Bild Zeitung "Pilger von eigenem Fahrrad erdrosselt" als ein anderer Gast von außen die Aufzugstür öffnete und mich aus der unguten Lage befreite.
Wenn man Abenteuer erleben will, muss man etwas mutig sein und sich Dinge trauen. Da hat die alte Dame schon recht aber noch wichtiger ist es an die Dinge zu glauben, die man vor hat. Dann fällt es einem irgendwann einmal leicht zu sagen "Just Do It".
Palas de rei heißt übersetzt Königspalast ist aber ein kleines Dorf wie jedes andere in seiner Umgebung. Ich wohne dort in einer Art Privatunterkunft jedoch mit Restaurantanschluss. Während des Abendessens gehen mir nochmal ein paar in den letzten vier Wochen erlebte Momente durch den Sinn und ich freue mich auf den morgigen letzten Tag meiner Reise nach Santiago de Compostela.
Der Einzug in die Stadt wird phänomenal werden. Natürlich in den gewohnten Farben. Rot-Blau wie sollte es auch sonst anders sein.
1. Juni 2022
Dass Italiener einen Sinn für schöne Dinge haben ist mir schon seit langem bewusst. Nicht umsonst ist azurblau die Farbe der Squaddro Azzurra, der italienischen Fussballnationalmannschaft. Wenn ich diese Farbe sehe denke ich an das Meer und die warme Mittelmeersonne, an den Duft von Sonnencreme und an den Strand. Nicht umsonst habe ich eine azurblaue Badehose.
Anke bezeichnet diese Hose als Multifunktions-Schlaf-Radel-Badehose und damit hat sie recht. Es war nicht damit zu rechnen aber diese Hose hat mir den Hintern gerettet.
Unterwegs sehe ich eine Apotheke und mit Händen und Füßen erkläre ich, dass ich mich wiegen lassen möchte. 5 Kilogramm habe ich abgenommen. Das sind 5,495 Prozent meines Körpergewichts und nach der alten Formel Körpergröße - 100 ergibt das Normalgewicht. Mein Freund Micha wirft in die Waagschale, dass Muskeln schwerer als Fett sind und ich eigentlich zugenommen haben müsste. Er ist zwar Physiker und kein Biologe aber er hat da sicherlich nicht unrecht. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ich während der geplanten drei Faulenzertage noch weiter abnehmen werde, da sich meine Oberschenkelmuskulatur am Strand von Barcelona wieder langsam zurückbilden wird.
Der Camino führt durch das hügelige Galizien und die Fusspilger, die unterwegs sind hinken fast alle und wirken müde ich glaube ihnen geht es wie mir. Sie haben nur noch ein Ziel. Endlich in Santiago anzukommen.
Um die Tatsache wieder Normalgewicht erreicht zu haben gebührend zu feiern bzw. das Abrutschen ins Untergewicht durch eventuellen Muskelschwund zu verhindern, bestelle ich abends im Restaurant Xacobeo im Örtchen Triacastela eine Paella nach Art des Hauses als Vorspeise, gefolgt von einem saftigen Lachsfilet und last but not least zum Nachtisch einen Reispudding. Gut gefüllt falle ich in mein Bett und greife mir aus der Minibar eine Flasche Estrella Galizia um den Abend abzurunden.
31. Mai 2022
Ich sitze in einem Café in der Avenida Roma in Leon und warte auf mein Frühstück. Café Americano, Toast mit Olivenöl und Tomate, 2 Croissants und 2 Gläser Orangensaft. Frühstück wäre im Übernachtungspreis mit drin gewesen aber es war mir einfach zuwider mich in dieser WG artigen Küche an einen Tisch mit all den anderen Gästen zu setzen und mein Pilgerdasein erklären zu müssen. Lieber wollte ich in Ruhe nochmal durchgehen was ich mir gestern bei Tapas und einigen Cervezas (zur Strafe musste ich nachts zweimal aufs Gemeinschaftsklo, auf dem wenn man sich setzte immer der schlecht befestigte Kllodeckel wegrutschte) ausgedacht hatte.
Ich hatte mir vorgenommen Freitag abends in Santiago anzukommen. 322 Kilometer in 4 Tagen müsste machbar sein. Samstag würde ich mein Fahrrad auf einer Poststeĺle in Santiago zum Versand nach Deutschland aufgeben und Sonntag würde ich nach Barcelona fliegen und dort am Strand drei Tage meinen Hintern von der Sonne auskurieren lassen. Genauso und nicht anders will ich es tun.
Nach dem Frühstück verlasse ich vergnügt die Herberge und fahre zur Kathedrale, um einen Stempel für mein schönes Stempelheft zu bekommen. Ich nehme mir vor heute 100 Fahrradkilometer zu schaffen. Der erste Teil ist einfach zu rollen aber dann kommt ein 28 Kilometer langer Anstieg auf 1500 Meter (da trennt sich die Spreu vom Weizen). Danach vernichtet man die gewonnene Höhe wieder innerhalb der nächsten 20 Kilometer. Wenn ich den Aufstieg schaffen würde, könnte ich oben auf der Bergkuppe nochmal mit letzter Kraft in die Pedale treten um das Fahrrad ein letztes Mal zu beschleunigen. Der Rest wäre pures Vergnügen. Der kühle Wind würde das durchgeschwitzte bordeauxrote Trikot trocknen, so dass man in der Unterkunft denken würde ich käme von einer Spazierfahrt.
Nach 30 Kilometern plagt mich wieder mein Hintern und ich weiß nicht wie ich auch nur noch die Hälfte der geplanten Strecke schaffen soll In diesen Minuten fällt mir ein, dass ich irgendwann in der ersten Woche die Radlerhose gegen Badeshorts getauscht habe, um danach mit deutlich weniger Schmerzen ins Ziel zu fahren. Ich tausche in einem Gebüsch die Hosen ( es ist mir sch...egal ob mich jemand sieht) und siehe da der Sattel sucht sich andere Druckpunkte an meinem Hinterteil aus. Mit einer Energieleistung (sowas geht nicht jeden Tag) quäle ich mich den Berg hoch, mache ein Gipfelbeweisselfie und trete ein letztes Mal in die Pedale.
30. Mai 2022
Die heutige Etappe ist flach und geht nach Leon. Nur 600 Höhenmeter und das verteilt auf 95 Kilometer. Ja genau. 95 anstatt 85. Das ist meine Art mich zu motivieren. Sich immer ein etwas höheres Ziel setzen als erforderlich. Immer das maximale von dem was machbar erscheint. Falls warum auch immer das Ziel nicht erreicht wird, so hat man es wenigstens versucht und muss deswegen trotzdem nicht enttäuscht sein.
Während der heute recht eintönigen Fahrt und auch in Pausen kann ich die Pilger sehr gut beobachten. Es gibt die einsamen Wölfe (bin ich ja auch einer), die ihr eigenes Tempo gehen. Nur wenn das Tempo passt akzeptiert man eine Begleitung. Obwohl man sich über dies und jenes leidenschaftlich unterhalten kann, verlässt man den Wegbegleiter früher oder später wieder, um Unabhängigkeit zu wahren. Dann gibt es viele Zweiergruppen. Meistens gehen sie zusammen oder gehen wenige Meter getrennt voneinander. Es scheinen oft Paare zu sein oder gleichaltrige Freunde aber manchmal könnten es auch Mutter und Tochter oder Vater und Sohn sein. Und dann gibt es noch größere Gruppen. In den meisten Fällen organisiert und von einem Reiseleiter angeführt. Fingen sie am Anfang des Camino noch gerne in Trauben, teilweise wild durcheinander diskutierend, sind die Gruppen hinter Burgos oft zersprengt, aber jeder bleibt immer in Reichweite der anderen Gruppenmitglieder.
Nach größeren Ortschaften gibt es speziell morgens größere Ansammlungen von Pilgern, da man ja ungefähr zur gleichen Uhrzeit von die Unterkunft verlässt. Es sieht aus wie eine Büffelherde, die zu einer Wasserstelle in der Serengeti wandert. Nach einigen Kilometern lockert sich die Herde auf und mit fortschreitender Tageszeit verschwinden die Pilger ganz aus der Landschaft. Es scheint irgendwie ein gemeinsames Bedürfnis zu geben egal bei welchem Wetter frühmorgens loszugehen und spätestens um 16 Uhr sein Nachtlager bezogen zu haben. Ich hingegen vertrödele morgens meine Zeit mit vielerlei Dingen, starte gegen halb zehn und bin dann oft bis 19 Uhr im Sattel. Jeder hat seine Art die Sachen anzugehen.
Viele Fusspilger sind während des Gehens in tiefe Gespräche verstrickt. Beim überholen bekommt man einzelne Wortfetzen mit und es wird einem bewusst, dass es ein großer Vorteil des fusspilgerns ist, während des Gehens reden zu können. Dadurch werden lose oder auch enge Bekanntschaften erleichert und selbst wenn man nach einem Gespräch auseinander geht, so trifft man den Partner bei einer Pause im nächsten Ort oder in einem Restaurant abends in der Stadt.
Radpilgern ist anders. Man umfährt auf den Schotterwegen Schlaglöcher, achtet darauf andere Pilger nicht zu gefährden, aber man kann schlecht reden und schon gar keine Bekanntschaften schließen. Während der Pausen ist das anders. Ich bin ständig mit irgendjemand in Kontakt aber zu mehr als oberflächlichem Smalltalk reicht es selten. Smalltalk ist vermutlich auch bei den Fusspilgern der Auftakt einer tiefer gehenden Begegnung aber als Radpilger fehlt der zweite und dritte Kontakt, um die Tiefe herzustellen.
Abends erreiche ich Leon. Großstadt mit riesiger Kathedrale. Ich komme zum ersten Mal in einer Pilgerherberge unter und mir ist nach 3 Minuten klar, dass das die letzte Herberge auf dieser Reise sein wird. Schlicht, ungemütlich, Gemeinschaftsbad, usw Hut ab vor denen, die so reisen wollen. Ich will das nicht selbst wenn ich dadurch vermutlich eine Menge Geld sparen könnte. Morgen abend hole ich mir wieder ein als Fabelhaft bewertetes Hotelzimmer mit Minibar und mehreren Steckdosen, wo ich meine Geräte aufladen kann.
29. Mai 2022
Abenteuer- Bewegung - Begegnungen- Kulinarik sind Themen, die in meinem Blog wiederkehrend abgedeckt werden Was bisher eindeutig zu kurz kam ist die Landschaft. Dies wird mir bewusst als ich heute früh durch den kastilienischen Frühling fahre, vor einer Fusspilgergruppe eine Bergkuppe überquere und sich vor mir eine Landschaft auftut, wie ich sie vorher kaum gesehen habe. Ich kann Landschaften schlecht beschreiben und will es auch hier gar nicht versuchen. Stattdessen möchte ich ein oder zwei Bilder mehr als sonst in den Blog hängen, um einfach die Bilder sprechen zu lassen. Hinter mir erreichen die ersten Fusspilger die Bergkuppe und der eine oder andere tut seine Begeisterung lautstark kund. Wir sind in Kastilien rund 30 Kilometer westlich von Burgos.
Die heutige Etappe ist witzigerweise tatsächlich genau 85 Kilometer lang (wie gestern präzise ausgerechnet) und ich genieße fast jeden Kilometer trotz meines schmerzenden Hinterns. Es ist viel los auf dem Camino und man grüßt sich mit einem "Buen Camino" egal on man Rad- oder Fusspilger ist.
In den letzten zwei Tagen haben mich einige Nachrichten erreicht, die mich sehr gefreut haben Silvia hat mir geschrieben "Lieber Ehemann, bin ich eigentlich eine Kuh oder eine Ziege?". Die Antwort ist noch offen aber ich glaube sie hat sich einfach geweigert eine Entscheidung zu treffen. Meine Mutter kocht mir Linsen mit Spätzle wenn ich heimkomme. Es gibt eine Menge guter Ratschläge was ich tun könnte, um meinen Hintern zu schonen. Allerdings kommen Vorschläge wir "benutze doch einen Damensattel", "lege doch ein kleines Kissen auf deinen Sattel" oder "staffiere dich doch mit Damenbinden aus" nicht in die Tüte, denn ein Tiger im bordeauxroten Trikot fährt mit Sicherheit nicht mit Damensattel oder Kissen auf dem Sattel oder mit dicken Hosen voll mit Damenbinden abends über die Ziellinie. Martina hat mich als einen "EinzahlMehrzahlGrammatikVokabelVerschwurbler" bezeichnet und Peter mit dem kleinen Motorrad streicht mir einfach einen Faulenzertag, damit ich am Tag durchschnittlich weniger Kilometer fahren muss Mein Schulfreund Thomas gleichzeitig Mitstreiter bei unserer Alpenüberquerung 2020 und ewiger Träger des gelben Trikots schreibt mir dass ich unbedingt mein bordeauxrotes Trikot nach Hause fahren soll. Und in dieser Form gibt es noch einige weitere Zuschriften, auf die ich hier nicht im Detail eingehe, die mich aber genauso freuen.
28. Mai 2022
Aus dem Tiger mit dem bordeauxroten Trikot ist über Nacht ein kühl rechnender Mathematiker geworden. Blitzeschnell sammelt er die Fakten
1 Er hat noch elf voĺle Tage bis zu zu seinem Heimflug
2. Nach diesen Strapazen braucht er noch 2 oder 3 Tage am Strand, um einfach nichts zu tun
3. Die noch zu fahrenden Kilometer bis Santiago sind 650
4. Einer der drei Puffertage, die in den Gesamttrip eingeplant sind soll bestehen bleiben
Das ergibt 650 geteilt durch ( 11 Tage - 3 Faulenzertage - 1 Puffertag ) = 92.86 Kilometer am Tag. Das ist selbst von einem Tiger (mit einem kaputten Hintern) nicht zu machen zumal es am Ende in Galizien noch richtig hügelig wird. Der Mathematiker beschließt folgende Maßnahme:
130 Kilometer werden eingespart durch eine Zugfahrt von Logrono nach Burgos. Dazu sind heute nur 10 Kilometer Rad zu fahren, um nach Logrono zu kommen. Das schont gleichzeitig auch den Hintern.
Das ergibt ein neues Gesamtbild:
( 650 Gesamtkilometer - 130 Zugkilometer - 10 heutige Kilometer) geteilt durch ( 11 Tage - 3 Faulenzertage - 1 Puffertag - heutiger Tag ) = 85 Kilometer am Tag aber der heutige Tag ist mehr oder weniger frei.
Das was der Mathematiker in mir ausgerechnet hat, ist mir sofort sympathisch zumal das Ergebnis der Rechnung eine ganze Zahl ohne lästigen Dezimalzahlen hinten dran ist. Leider ist 85 keine Primzahl aber das wäre ja auch zuviel Glück gewesen.
Nach dem Frühstück fahre ich bis nach Logrono, kaufe mir online eine Zugkarte für eine Person mit Fahrrad ab 12.42 von Logrono nach Burgos. Ich bin ein wenig früher dran und hole mir noch einen Stempel im Touristenbüro von Logrono. Als der Zug auf Gleis 1 einfährt, sehe ich nirgendwo einen Fahrradwagon. Ich spreche einen Zugbegleiter an, der mir versichert, dass er das Fahrrad SO NICHT mitnehmen kann. Das Fahrrad müsse auseinandermontiert sein und er könne nur mich ohne Fahrrad transportieren. Es ist komisch aber mich bringt das nicht aus der Fassung, denn wenn ich eine Bahnfahrt vor mir habe, rechne ich immer mit irgendwelchen Schwierigkeiten.
Am Serviceschalter des Bahnhofs werde ich zum naheliegenden Busbahnhof geschickt, da 12.42 der einzige Zug nach Burgos an diesem schönen sonnigen Tag losfuhr. Die Dame im Busbahnhof spricht nur spanisch aber ist pantomimisch sehr begabt und erklärt auch mit viel Gestik, so dass ich verstehe, dass der Bus nach Burgos um 14.45 fährt aber nur auseinander montierte verpackte Fahrräder mitnimmt. Verpackungsmaterial habe sie leider keines aber ich hätte ja noch eine gute Stunde Zeit mein Fahrrad herzurichten. Na super ! Irgendjemand nennt mir einen Platz, wo es ein Fahrradgeschäft geben soll. Wenig später betrete ich den Laden in der Hoffnung, dass jemand dort weiß wie man Fahrräder in Spanien transportfertig macht. Der Mann versteht erst nicht was ich möchte, ruft dann aber seinen 15-jährigen Sohn zu Hilfe. Es ist der Hammer, aber der kleine spricht fließend englisch und verklickert seinem Vater, was ich brauche. Während sein Vater das Verpackungsmaterial organisiert, erklärt er mir, dass er vor 2 Jahren erkannt hat, dass es in der Welt wichtig ist englisch zu sprechen und er seitdem Originalserien in Netflix schaut. WOW !
Der Bus nach Burgos steht schon bereit, als ich mit dem Fahrrad am Bahnhof eintreffen. Ruckzuck ist das Vorderrad abmontiert und vorschriftsgemäss an das restliche Fahrrad angebunden. Der Bus fährt pünktlich los und ich habe sogar noch Zeit mir ein Take Away Sandwich und ein kühles Getränk für unterwegs zu holen. In Burgos angekommen besichtige ich die beeindruckende Kathedrale und erlebe abends bei Bier und Tapas inmitten begeisterter Real Madrid Fans den Champions League Sieg der Königlichen gegen meinen englischen Lieblingsclub FC Liverpool.
27. Mai 2022
Meine alte Schulfreundin Martina hat mir mitgeteilt, dass es bei ihr gestern Spargel an Hollandaise mit Kartoffeln und Schinken und das ganze "avec un ou deux glas de vin blanc" gab. Man muss wissen, dass Martina Englisch als erste Fremdsprache gewählt hatte, um sich die zwei Fehler in dieser Formulierung erklären zu können. Glas heißt auf französisch "verre" denn man trinkt Wein nicht aus Totenkopfmasken. Den zweiten Fehler erkläre ich jetzt nicht in diesem Blog, aber Menschen, die mit der französischen Grammatik genau so gut vertraut sind wie ich (ich denke da an Peter mit dem Wohnmobil oder Bernd oder Marina) haben den Fehler sicherlich schon entdeckt.
Die Etappe heute hat es erneut in sich und geht über 85 Kilometer über 5 Berge, der für mich 2. Kategorie. Am ersten Berg treffe ich auf halber Höhe auf einen Franzosen, der gebrochen Englisch spricht. Er fragt mich ob ich französisch könne und ich antworte mit Nein, da mir in Frankreich mehrfach erklärt wurde, dass ausländische Touristen die Landessprache beherrschen sollten. Er teilt mir mit, dass er aus Rennes komme und er bisher 1300 Kilometer gefahren ist. Wir fallen uns fast um den Hals, als ich ihm in fließendem English meinen Tourenkilometerstand von 1350 mitteile. Wir fahren zwei Stunden zusammen und er erklärt mir um 13 Uhr, dass er sich jetzt einen Campingplatz suche, um dort sein Zelt aufzubauen. Wir verabschieden uns und wünschen uns alles Gute, aber für eine längere gemeinsame Zeit hat es leider nicht gepasst.
Zum Mittagstisch wähle ich heute eine Linsensuppe. Das erinnert mich an meine Heimat, denn sie enthält sogar Würstchen. Nur die Spätzle fehlen.
Gegen 18 Uhr und ziemlich erschöpft erreiche ich das Palacio de Pujadas in Viana. Sicherlich keine typische Pilgerunterkunft, aber jeder findet halt seinen eigenen Weg.
26. Mai 2022
Danke für diesen schönen Morgen. Danke... Mein Smartphone weckt mich um 7.00 hart und unnachgiebig mit einem Klavierstück aus der CD Erdbeeren. Ich habe Respekt vor dieser Pyrenäenüberquerung und habe mir den Wecker gestellt. Das ist in diesem Jahr tatsächlich das erste Mal und zeigt wie es um mich steht Ich möchte unbedingt rechtzeitig loskommen, um körperliche Schwächephasen mit genügend Pausen bekämpfen zu können. Gestern auf den letzten 10 Kilometern musste ich mein Fahrrad dreimal schieben. Wer mich etwas kennt, der weiß, dass ich dies nur knapp vor der bedingungslosen Kapitulation zulasse. Vielleicht hat mich diese Schwächephase zu dem Nervenbündel werden lassen, das ich jetzt gerade bin. Hastig frühstücke ich und die warmen Abschiedsworte des jungen Hausherren dringen nicht in mein Gehirn vor.
Doch kaum auf dem Sattel verfliegen alle Selbstzweifel. Ich bin der Mann mit dem bordeauxroten Trikot, dem Gesamtführenden der Tour von Bebenhausen nach Santiago de Compostela. Die ersten Satteltaschenfahrer habe ich schnell überholt Das breite Grinsen in meinem Gesicht macht mich sicherlich nicht zu einem Sympathieträger aber sind wilde Tiger, die ihre Beute reißen sympathisch? Ich mustere die verschiedenen Fusspilger, die ich passiere. Agnes, die langjährige Kollegin und PEKIP Freundin von Silvia hat einmal gesagt "Eine Frau muss sich zwischen 40 und 50 entscheiden ob sie Ziege oder Kuh sein will". Auf dem Camino sind fast nur Ziegen unterwegs. Ich überlege fast eine Stunde welche zwei Tiergattungen von Männern erwählt werden kann, aber finde keine.
Die Landschaft in den Pyrenäen ist prächtig. Frische Farben laden zum Fotografieren ein. Die Ortschaften heißen so wie man sie aus den Pyrenäenetappen der Tour de France kennt. Obwohl mich die Etappe dann doch körperliche und geistig fordert, kaufe ich sogar noch ein Fusspuder in einer Apotheke, die kurz nach Arneguy liegt.
Im Zielort Pamplona fahre ich mit erhobenem Haupt durch die Straßen und werde von einer dreiköpfigen Gruppe zum Bier eingeladen. Basque, Patricia und David sind stolze Basken und derjenige mit der lautesten Stimme hat Rederecht Mir gefällt der Name Patricia, der sich mit spanischen S so ausspricht, dass man weiß in Spanien zu sein Mit viel Glück und Geschick gelingt es mir mich nach dem ersten Bier wieder zu verabschieden. Zufrieden fahre ich weiter an den herrlichen Herrenhäusern der Innenstadt Pamplonas vorbei zu meiner einfachen Unterkunft
25. Mai 2022
Ich hasse umgebaute Gartenhäuser mit schmierigen Holzküchenmöbeln. Mit rot-weiß karierten Folien ausgekleidete Besteckschubläden. Glücklicherweise ist die sehr nette Frau nicht greifbar obwohl ein gemachtes Frühstück schon schön gewesen wäre.
Mit schlechter Laune mache ich mich auf den Weg nach Saint Jean Pied de Port, dem Ende von Frankreich und dem Beginn des Camino Frances. Peter aus Schönaich (der mit dem kleinen Motorrad) hat in seiner doch sehr knappen Zeit im Internet herausgefunden, dass der Camino eine komplexe Angelegenheit ist (siehe Blog-Ende). Anke wiederum schickt mir ein Foto von einem Softeisbecher, den sie im Breuni gerade isst. Das zeigt mir doch, dass Menschen daheim an mich denken und meine Laune klart sich auf.
Die Fahrt durch die hügelige Lamdschaft ist sehr sehr schön aber auch sehr sehr anstrengend. Mein Hintern meldet sich seit gestern wieder. Ich habe leider mein Puder verloren (sonst nur noch meine Schlafanzughose aber die war sowieso kariert und etwas ausgeleiert am Bund - Silvia hat mit Sicherheitmit mit viel größeren Ausfällen nach 16 Tagen ohne Aufsicht grechnet :-)). Das Puder müsste ich eigentlich dringend nachkaufen wenn es nur eine Apotheke gäbe.
In Saint Jean Pied de Port traue ich meinen Augen nicht. Die ganze Stadt wimmelt von Fuß- und Fahrradpilgern. Angeregt durch die schönen Bilder des Schönaicher Wandervereins, der sich zur Zeit auf Sardinien befindet, bestelle ich in einem Take Away Laden eine Pizza mit Tomaten und Käse. Als neben mir ein Amerikaner erzählt, wie man am besten eine Basketballmannschaft trainiert, flüchte ich in meinett etwas abgelegene Unterkunft und genieße alleine die schöne Aussicht in die Berge.
24. Mai 2022
Ich fahre bei stark bewölktem Himmel und unangenehmer Kälte los. Die schlechte Wettervorhersage wird einfach ignoriert. Mit ignorantem Verhalten lassen sich manche Dinge besiegen. Ich komme wenige Kilometer weit und es beginnt leicht zu regnen, dann plötzlich stärker. immerhin habe ich vorsichtshalber eine Regenjacke an. Ich nehme mir vor aus den Regenpausen das beste zu machen und sogar Spaß zu haben. Die Tropfen werden stärker, treffen den Bildschirm meines Smartphones und zwingen es unerwartete Dinge zu tun. Es fragt mich ob er "Flughafen" nach portugiesisch übersetzen soll. Dann möchte ein Tropfen, dass Komoot mit mir einen teuren Vertrag abschließt. Um das zu verhindern halte ich an und gehe in einen zufällig vor mir liegenden Gartenmarkt, um Blumen zu kaufen. Die Blumen sehen schön aus und man muss sie aufgrund des Regens auch nicht gießen. In der nächsten Regenpause lerne ich einen Bauern kennen in einer Scheune kennen und in der dritten besuche ich einen Carrefour Supermarkt..
Gegen 17 Uhr regnet es erneut und ich beschließe spontan im nächsten Ort ein Zimmer zu nehmen. Es ist tatsächlich eines frei und eine sehr nette Frau übergibt mir die Schlüssel zu einem kleinen Ferienhaus. Ich freue mich auf den Abend bis dann innerhalb von wenigen Minuten zwei Dinge passieren, die mir überhaupt nicht gefallen. Erstens ist das nächste Restaurant 8 Kilometer entfernt und die sehr nette Frau sieht in verdutzte Augen, als sie mir erklärt, dass das Haus ja eine Küche habe. Zweitens liegt das Haus an einem Ort wo es kein Internet gibt. Widerwillig nehme ich zur Kenntnis, dass es am heutigen Tag Spaghetti Napoli anstatt des geplanten Coq au vin mit einem Beignet Apricot als Dessert geben wird.
23. Mai 2022
Ich komme heute früh erst um 10.30 weg, denn frühstücken, telefonieren, Ladekabel kaufen kostet Zeit. Es gab über Nacht einen Temperatursturz um beinahe 15 Grad. Glücklicherweise regnet es nicht. Anke schreibt mir über WhatsApp, dass sie bei gutem Wetter jeden Tag 20 Kilometer Rad fährt und deswegen Anspruch auf ein Fillet Mignon und Apfeltarte hätte. Ich denke ich lese nicht richtig aber um sie nicht zu demotivieren bin ich einverstanden. Dennoch nagt das innerlich an mir und ich mache Mittagstisch. Cote de Boeuf Medium.
Wie der Zufall es will fährt in diesem Moment eine Motorradgruppe vor das Restaurant. Der Kopf der Gruppe betritt breitbeinig die Restaurantterrasse und bestellt in einem mir bekannten Dialekt "Apfelschorle". Die Bedienung schaut verständnislos und mir wird klar, dass in einer solchen verfahrenen Situation nur jemand helfen kann, der sich eloquent in französischer Sprache ausdrücken kann. "Jus de pommes avec de l'eau" sage ich rasch und ich sehe das Lächeln im Gesicht der Kellnerin wiederkehren. Der Motorradhäuptling stellt seine Gruppe vor und ich erfahre, dass die meisten aus Weil der Stadt kommen. So klein ist diese Welt !
22. Mai 2022
Mein Nachbar und Freund Harry hat mich benachrichtigt, dass heute wohl Bergfest sei, d.h. die Hälfte der Strecke ist gefahren. Er sagte auch bei Gelegenheit öfters so etwas wie 'Komm lass uns nach Spanien runter fahren". Das hört sich einfacher an als es tatsächlich ist. Ich bin ja noch nicht in Spanien aber es ist eher ein ständiges hoch und runter als ein runter.
95 Kilometer stehen heute auf dem Plan und die Etappe führt an der malerischen Dordogne und Garonne entlang. Gegen 15 Uhr stelle ich fest, dass ich mein Ladekabel morgens in der Unterkunft vergessen habe und die nächste freie Unterkunft für heute Nacht 57 Kilometer entfernt liegt. Ich trete ins Pedal und erreiche Langon nach 110 Tageskilometern und der freundlichen Hilfe einer Cafebetreiberin, die mir mein Smartphone während einer Trinkpause auflädt.
21. Mai 2022
Eine relativ unspektakuläre Etappe führt über Perigeux zum Zielort Mussidan. Bei der Buchung hatte ichť gar nicht darauf geachtet, aber die Unterkunft hat einen Pool.
Aber ich habe eine gute Tat vollbracht. In einer Bäckerei in Perigeux bekomme ich Lust auf Apfeltarte. Die Verkäufeŕin (blöde Kuh) behauptet jedoch es gäbe keine. Als ich ihr die Tarte im Schaufenster zeige, sagt sie die Tarte verkaufe sie nur am Stück und schickt mich weg. Fünf Minuten später betrete ich erneut den Laden und sage der Verkäuferin ich kaufe die ganze Tarte und sie soll sie als Geschenk verpacken. Die Hälfte der Tarte habe ich dann gegessen und die andere Hälfte einem Obdachlosen geschenkt. Er hatte schlechte Zähne und die Tarte war sicherlich nicht gut für sie, aber sie war vermutlich gut für seine Seele. Ganz ehrlich gesagt wollte ich aber hauptsächlich die Apfeltarte und noch viel mehr das Gesicht der Verkäuferin sehen wenn sie das Geschenk einpackt.
20. Mai 2022
Ich wache auf und mir geht's gut. Gestern in Limoges hatte ich zum Abendessen ein Glas Wein bestellt und die Bedienung hat mir einen halben Liter gebracht. Ich wollte zuerst reklamieren aber habe das nach kurzem Nachdenken als Wink des Schicksals interpretiert und mich stattdessen bedankt.
Die Zugfahrt hat mir gestern gut getan und heute und morgen stehen zwei leichtere Etappen an. Ich betreibe weiter Selbstpflege und arrangiere diverse Telefonate mit zuhause.
Peter und Vero haben mir den Tafelaufschrieb der Cafebetreiberin im Burgund übersetzt und er gefällt mir und passt zu der Dame. Ich füge ihn in diesem Blog als Zitat dazu.
Nach einer wenig spektakulären Fahrradfahrt, komme ich in einem B&B unter. Als die nette Gastgeberin erfährt, dass ich nach Santiago will aber meine Muschel verloren habe, rennt sie los und als sie zurückkommt überreicht sie mir freudestrahlend eine Muschel als Geschenk.
19. Mai 2022
Heute früh fühle ich mich nicht besonders gut. Vielleicht hat es mit den steifen holländischen Gastgebern zu tun, oder doch damit, dass ich mal eine Radfahrpause bräuchte. Zudem habe ich die Jakobsmuschel verloren, die ich von meinem Vater geschenkt bekommen habe und meine Fahrradkette klappert. Ich bringe das Frühstück bei der holländischen Aussteigerfamilie hinter mich und schmiere meine Fahrradkette. Ich habe vor heute nur eine kleine Etappe bis nach Chateuroux zu fahren und dort den Zug nach Limoges zu nehmen. Eine neue Jakobsmuschel will ich irgendwo kaufen. Spätestens in St. Jean Pied de Port, dem Startpunkt des Camino Frances.
Dann beginne ich etwas Selbstpflege. Ich rasiere mir meinen doch etwas zu sehr verwegenen Bart aus dem Gesicht und gönne mir auf den 45 Kilometern 3 Pausen. Eine davon in einem Restaurant, das als Mittagstisch Filet Mignon anbietet (Entschuldige bitte Bernhard).
18. Mai 2022
Es läuft rund am heutigen Tag. Um derTageshitze zu entfliehen, bin ich um 9:30 für meine Verhältnisse früh gestartet (früher schaffe ich es einfach nicht) und habe zur Mittagspause ohne auch nur eine Menschenseele zu sehen bereits 50 Kilometer hinter mir.
Plötzlich sehe ich ein Cafe mit Stühlen und Tischen auf einem größeren Platz. Vor dem Platz steht ein Schild mit einer Nachricht, die wohl irgendwas bzgl. Nächstenliebe aussagt. Neugierig betrete ich das Lokal und stelle mich vor. Die Frau schaut freundlich und fragt mich ob sie mir was zu essen kochen soll. Nachdem ich ihr erklärt habe, dass ich nur ein Sandwich und eine Cola will, schnappt sie unangekündigt einen Tisch, trägt ihn 50 Meter in einen Schattenplatz und sagt mir ich solle mich hier ein wenig ausruhen. Sehr außergewöhnlich finde ich das und vielleicht kann mir jemand, der besser französisch kann als ich die Worte auf der Tafel übersetzen.
Ich verlasse jetzt das wunderschöne Burgund und radle nach Centre. Die Nachmittagshitze macht jede Steigung zur Qual und daher beschließe ich mir eine Unterkunft mit Pool zu mieten Das klappt und nach weiteren 50 Kilometern liege ich im kühlen Nass und überlege mir so manches.
17. Mai 2022
Vor meiner Abreise habe ich mit meinem jüngeren aber doch sehr weisen Bruder Bernd gesprochen und er meinte er würde die Tour nach Santiago nicht schaffen, da er aufgrund der Schönheit der Bourgogne dort hängen bleiben würde. Ich verstehe jetzt was er meint, denn das Burgund ist wirklich traumhaft.
Allerdings hat er mir nicht erzählt wie ausgestorben hier alles ist. Zudem hat es nachmittags so um die 30 Grad , so dass mir das Wasser ausgeht. In einer Ortschaft klingele ich an einer Haustür und bitte um etwas Wasser. Ich beschließe kurz danach in Varzy, einer nahe gelegenen Stadt, die heutige Strecke mit dem Linienbus zu vollenden. Der mürrische Busfahrer lässt sich nur sehr schwer davon überzeugen mein Fahrrad mitzunehmen. Mit feinstem Französisch (grins) - mir war überhaupt nicht klar, dass ich so viel Überzeugungskraft besitze - erkläre ich dem Fahrer, dass es besser für uns alle wäre wenn ich nicht alleine hier bleiben müsste.
In Nevers gönne ich mir ein schönes Appartement mit Balkon und kann es kurz darauf - wie soll es im Burgund anders sein - kontaktlos beziehen.
16. Mai 2022
Nach dem Frühstück verabschiede ich mich von Erneste und schiesse noch ein Selfie mit uns beiden.
Wer mir gestern erzählt hätte, dass ich heute 110 Kilometer im Sattel sitzen würde, den hätte ich für verrückt erklärt. Aber es läuft heute ausgezeichnet obwohl das Gelände hügelig und recht anstrengend zu fahren ist. Selbst ein Sturz auf rutschigem Waldboden stecke ich weg. Abends erreiche ich Avallon und nehme mir dort ein einfaches Hotelzimmer.
15. Mai 2022
Ich fahre heute nur 55 Kilometer anstatt der geplanten 90. Mein Hintern schmerzt trotz präventiver Melkfettbehandlung. Unterwegs wechsle ich meine Radlerhose in eine einfache Unterhose mit Shorts ohne Polster und tatsächlich werden die Beschwerden kleiner.
Die Unterkunft für heute Nacht ist ein B&B in Vernot mit großartigen Gastgebern. Erneste und seine Frau haben die Mühle vor 3 Jahren gekauft und komplett renoviert. Es gibt nur ein Gästezimmer aber das zweite wird gerade erstellt. Erneste erkennt sofort an meiner Jakobsmuschel, dass ich auf dem Weg nach Spanien bin und muss ihm bei einem Bier alles über meine Planung erzählen. Während seine Frau für mich Schnecken und Boeuf Bourgiuignon zubereitet, besucht er mit mir den Bürgermeister, um einen Pilgersstempel für den heutigen Tag zu bekommen.
14. Mai 2022
Seit gestern nachmittag fahre ich mit Elke. Es gibt wenig Pilger, die man auf der Strecke trifft, aber an den Satteltaschen oder an der angehängten Jakobsmuschel erkennt man sich. Elke ist bis Samstag Abend auf dem Jakobsweg unterwegs und fährt am Sonntag zurück nach Göppingen. Sie erzählt von sich, dass sie gerne mit Kindern arbeitet und am liebsten Pflanzen und Steine fotografiert (Menschen weniger). Dennoch bitte ich sie ein Foto von mir zu schießen wie ich auf einem Stuhl sitze und einen Müsliriegel esse.
Abends gehe ich im Restaurant L'Aurore in Gray essen. Das Menu Prestige erinnert mich daran warum ich so gerne in Frankreich bin.
13. Mai 2022
Ich wache auf und es regnet. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht dass ich eine Zwangspause einlegen muss, denn mein Körper fühlt sich überhaupt nicht fit an. Jeden Tag Fahrrad zu fahren ist ganz schön anstrengend. Silvia hat das Bild mit dem nette Mechaniker gesehen und per WhatsApp mitgeteilt dass ich wohl schon abgenommen hätte...
Gegen Mittag hört der Regen auf und ich fahre zunächst zügig los. Nach 40 Kilometern mache ich eine größere Pause und gönne mir ein Thunfisch-Baguette mit Majo. Lust weiter zu fahren habe ich keine mehr und so beschließe ich in Bonnal an einem See zu übernachten.
12. Mai 2022
Der nette Mechaniker hat mein Fahrrad tatsächlich repariert bekommen und ich fahre erleichtert nach Thann, wo ich mir in dem Münster einen Stempel holen möchte. Leider ist Mittagspause und ich muss mein Stempelheft wieder einpacken.
Den Stempel bekomme ich nach einer wohlwollenden Prüfung meiner Pilgertauglichkeit von einer ungefähr 90 Jahre alten Nonne im Kloster Bellemagny.
Nachmittags komme ich noch bis Belfort wo Regen einsetzt. Schweren Herzens ;-) beende ich meine Tagestour und gönne mir einen Grillteller, um meine Laune zu verbessern.
11. Mai 2022
Die Fahrt von Freiburg zur französischen Grenze ist eine Genussfahrt. Die Schwarzwald-Strapazen vom Vortag sind vergessen.
In Fessenheim kurz nach dem Grenzübergang mache ich Mittagspause in einer Pizzeria. Kurz darauf passiert es mitten auf einem Feldweg. Es tut einen heftigen Schlag und das Pedal blockiert. Man sieht sofort dass die Kette gerissen ist. Blöd ist dass der Umschalter komplett verbogen ist und ich keine Möglichkeit habe mein Fahrrad selbst zu reparieren. Ich schiebe das Fahrrad in den nächsten Ort und glücklicherweise gibt es in Ensisheim eine Werkstatt. Als ich erzähle dass ich von Stuttgart nach Spanien fahre, verspricht mir der Besitzer der Werkstatt das bestmögliche zu tun. Er würde sich dann melden wenn das Fahrrad fertig sei. Es könnte sein dass ich Glück im Unglück habe.
10. Mai 2022
Ich muss meine Tour umbenennen. Anstatt 'Auf dem Jakobsweg " soll sie nun "°Auf den Spuren des Jakobsweg" heißen. Es ist fast unmöglich mit dem Fahrrad genau die Strecke zu fahren. Es geht über Wiesen und steile Pfade, die fast nur zu Fuß zu bewältigen sind. Mit Komoot schaffe ich es aber ganz gut Alternativrouten zu finden und erreiche mein Etappenziel Freiburg spätnachmittags.
9. Mai 2022
Heute früh begann die große Reise. Der Einstieg war in Bebenhausen und geplant war eine 85 Kilometer Etappe nach Alpirsbach.
Ich habe mir vor der Reise einen Pilgerpass zuschicken lassen. Er ist das „Stempelheft“ aller Pilger. Nur wenn darin durch Stempel der Herbergen (und Kirchen, Café etc.) die Pilgerreise nachgewiesen wird, bekommt man in Santiago de Compostela die Compostela, so eine Art Siegerurkunde ausgestellt Ich habe mir im Vorfeld überlegt wie es wohl sein wird wenn man seinen ersten Stempel bekommt. Muss man vielleicht ein Vaterunser beten oder bekommt man den Stempel erst nachdem man beim Pfarrer eine Beichte abgelegt hat?
Es war vollkommen einfach und unspektakulär. Im Kloster Bebenhausen sass eine Angestellte, die relativ emotionslos den Stempel in das erste freie Feld im Pilgerpass platzierte und mich dann schweigend verabschiedete. Ich sagte noch etwas wie "ich beginne hier in Bebenhausen den langen Weg nach Santiago" und erntete eine Antwort so in etwa wie "Das machen einige" . Nichtsdestotrotz bin ich ab sofort Pilger und schaue mir in meiner Unterkunft in Schenkenzell zum wiederholten Mal meinen Stempel an.
22. April 2022
Morgens erreiche ich relativ unspektakulär Ulm und erwische sofort einen Regionalexpress nach Stuttgart. Am Hauptbahnhof angekommen fahre ich auf die Königsstraße und kaufe mir ein großes Mozzarella Sandwich beim Bäcker Kamps. In der Sonne sitzend überlege ich was ich vor Reiseantritt unbedingt noch erledigen muss und auf was ich auf dem Jakobsweg achten muss.
1. Ein neues Smartphone muss her. Das Ding, das ich habe ist von 2017 und der Akku ist schlecht. Auch mit einem neuen Smartphone werde ich nicht den ganzen Tag navigieren können aber ich notiere mir, dass ich als Ergänzung mein altes ausgemustertes Teasy Fahrrad-Navi und zwei Power-Banks mitnehmen will. Eine davon soll mit Solarenergie zu betreiben sein.
2. Ich muss mir Salbe für meinen Hintern, Puder und Gel zum auftragen kaufen.
3. Mein Fahrradlicht tut nicht richtig und am Rücklicht ist die Fassung ein wenig ausgebrochen, d.h. ich muss mir eine neue Fahrradlampe kaufen.
4. Mein linkes Pedal knarzt, obwohl ich es im letzten Herbst reparieren ließ. Vielleicht hilft etwas Schmiermittel.
5. Ich muss meine GoPro einpacken. Die hatte ich tatsächlich daheim auf dem Schreibtisch liegen lassen
6. Magnesium gegen Wadenkrämpfe muss mit.
Ich fahre durch die Stadt gen Böblingen, dann nach Schönaich und erreiche nach 30 Kilometern mein zuhause. Mein Hintern ist ziemlich strapaziert und das heiße Wasser tut beim duschen weh. Die Generalprobe hat sich gelohnt. Es gibt doch noch einiges für mich im Vorfeld zu tun.
21. April 2022
Ich habe beschlossen eine Generalprobe zu machen und dabei unterwegs zu übernachten. Ich möchte testen, ob ich alle notwendigen Sachen dabei habe, ob mein Tourenfahrrad hält, wie ich konditionell drauf bin und generell zu schauen, ob es noch Ecken gibt, in denen ich besser vorbereitet sein muss.
Ich habe großes Glück und es ist schönes Wetter angesagt mit Temperaturen um die 17 Grad. Jedoch ist es morgens sehr kalt, so dass ich erst um 10:15 von daheim wegfahre. Mein Tagesziel ist Sigmaringen und am nächsten Tag möchte ich über den Donauradweg nach Ulm fahren und dann mit dem Zug zurück nach Stuttgart. Es soll ungefähr die gleiche Tageswegstrecke sein, die ich auf dem Jakobsweg fahre, also 85 Kilometer. Und das an zwei aufeinanderfolgenden Tagen bei hoffentlich schönem Wetter.
Bis Reutlingen komme ich schnell und flüssig. Meine Beine sind am Anfang etwas müde aber das gibt sich schnell. Komoot zeigt mir den Weg und das klappt prima, bis ich kurz hinter Reutlingen feststelle, dass mein Smartphone nur noch 3% Akkukapazität anzeigt. Vor mir liegt die Honauer Steige und was soll da schief gehen?
Es geht so ziemlich alles schief, denn es dauert keine 5 Minuten und ich habe mich komplett verfahren und muss wieder einiges an Wegstrecke zurücklegen. Da es Mittagszeit ist und ich auch ein wenig hungrig bin, setze ich mich auf die Terrasse eines Hotels und bestelle Mittagstisch. Hühnerfrikassee mit Reis und Salat. Während ich esse, lädt mein Smartphone wieder auf 60% und ich setze guten Mutes den Weg fort, setze aber Komoot nur an Wegstellen ein, wo ich mir nicht mehr sicher bin in welche Richtung ich fahren muss. Trotzdem hält der Akku nur bis nach Trochtelfingen. In einer Brauereigaststätte trinke ich ein Radler und lade den Akku bis ca. 45%. Mehr Geduld habe ich nicht. Das sollte sich später rächen, denn 10 Kilometer vor Sigmaringen ist mein Akku wieder alle und da es in Sigmaringen keine Unterkunft mehr gibt, muss ich ins 15 Kilometer weiter östlich gelegene Mengen fahren. Noch ein Radler - dieses Mal in einer heruntergekommenen Spelunke - und erst gegen halb acht Uhr abends erreiche ich zugegebenermaßen erschöpft mein Nachtquartier.
Viel schlimmer als der schlechte Akku ist jedoch der Zustand meines Hinterns. Nach 80 Kilometer Wegstrecke war es schon unangenehm und nach den 115 zurückgelegten Tageskilometern bin ich froh, dass ich mich in einem Restaurant überhaupt noch auf die harte Holzbank setzen kann, um das wohlverdiente Jägerschnitzel zu essen. Wie das auf dem Jakobsweg mit meinem Hintern gehen soll weiß ich nicht, aber wahrscheinlich weiß ich viele Dinge noch nicht, die dort passieren werden.
Der Jakobsweg ist kompliziert und anstrengend, er bringt dich an den Rand des Wahnsinns
und sogar kurz darüber hinaus.
Er bereitet dir Schmerzen, lässt dich fluchen, macht dir Angst und treibt dir vor Verzweiflung
die Tränen in die Augen.
Quelle Internet